Univ.-Prof. Mag. Dr. Andrea Lehner-Hartmann
Können Religionen etwas zu Demokratie beitragen, wenn sie selbst nicht demokratisch verfasst sind?
Um diese berechtigte Frage kurz zu beantworten: Auch wenn sie selbst nicht demokratisch organisiert sind, wie beispielsweise die katholische Kirche, haben sie ihren Beitrag zu leisten und können sie ihren Beitrag leisten, indem sie mit Bezug auf ihre Quellen Orientierung geben können, wie Menschen ein gutes Leben miteinander führen und für sich, andere und die Mitwelt Verantwortung übernehmen können. Dabei muss nicht verschwiegen werden, dass es auch religiös begründete antidemokratische Entwicklungen gab und gibt, weswegen Religionen immer wieder zur kritischen Selbstreflexion herausgefordert sind, ob sie denn tatsächlich Humanität befördern oder nicht.
Demokratien sind als etwas Dynamisches anzusehen, die in ständig neuer Kraftanstrengung gelernt werden müssen. Dabei ist Demokratie nicht nur als Staatsform, sondern als Lebensform zu verstehen (Dewey).
Braucht Demokratie Religion?
Demokratie als Lebensform bedarf für ihre Begründung zwar nicht notgedrungen der Religion, aber in der Begegnung und in den Aushandlungsprozessen unterschiedlicher menschlicher Lebensentwürfe wird Religion zum Thema und muss somit in demokratische Prozesse inkludiert werden. Bleibt Religion als existenziell bedeutsame Dimension vieler Menschen ausgespart, kann dies zu Problemen in der Verständigung und im Zusammenleben führen.
Warum kann Religion nicht aus Bildungsprozessen ausgespart werden?
Wenn Bildung als eine Art „Existenzprojekt“ (Peukert) verstanden wird, sich ein Bewusstsein und Verhältnis zu anderen Personen, Dingen und sich selbst zu schaffen um im Horizont von Geschichte und des Lebens mit anderen handlungsfähig zu werden, so darf Religion hier nicht aus dem Reflexionshorizont ausgespart werden. Religiöse Bildung ist aber nicht gleichzusetzen mit Glauben in einem bestimmten christlichen, jüdischen oder islamischen Verständnis, weil Glaube immer das Moment freier Entscheidung beinhaltet. Es geht vielmehr um die Ausbildung religiöser Urteilskraft. Das bedeutet die Fähigkeit, zu einem Urteil gelangen zu können, ob religiöse Traditionen und Praktiken dem Menschsein gerecht werden, die menschliche Realität ernst nehmen oder ideologisch missbraucht werden, um Menschen für andere Zwecke gefügig zu machen. Zu religiöser Bildung gehört aber auch, negative gesellschaftliche Entwicklungen mit Bezug auf religiöse Quellen analysieren und kritisieren zu lernen. Entgegen einer einseitigen Ausrichtung an Effizienz und Fortschritt ließe sich mit Bezug auf religiöse Quellen die Anerkennung des Menschen vor jeder Leistung einbringen.
Humane Bildung und religiöse Bildung stehen aber nicht in einem additiven Verhältnis zueinander, weil Religion nicht außerhalb von Welt, sondern in ihr vermittelt vorkommt und gleichzeitig das Unverfügbare, auf das Religion verweist, auch eine Dimension des Weltlichen ist. Bleibt der Blick auf das Unverfügbare außer Acht, geht auch der Bildung die Humanität verloren. In der Achtung vor dem unverfügbaren Anderen hält sie die Aufmerksamkeit für Macht- und Herrschaftsverhältnisse offen.
Welche Aufgabe kommt hier dem Religionsunterricht zu?
Dem Religionsunterricht kommt die bildende Aufgabe zu, zur religiösen Mündigkeit von Schüler*innen beizutragen, sie für den Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Pluralität zu befähigen und ihnen Orientierung für ein Zusammenleben in Frieden und Verantwortung zu geben. Es ist in Evidenz zu halten, dass ein gebildeter Mensch sich nicht unbedingt religiös verstehen muss, aber die Bereitschaft mitbringen muss, sich mit religiösen Fragen – den eigenen und denen anderer - auseinanderzusetzen. Zu den zentralen religiösen Fragen Woher kommen, wohin gehen wir? Welchen Sinn hat das Leben? gibt es in den Religionen unterschiedliche Deutungsangebote. Religiöser Bildung kommt die Aufgabe zu, diese Fragen zunächst als Anfragen einzuspielen. Da der moderne Mensch gezwungen ist, seinen Glauben selbst zu wählen, nützt ihm weniger ein vorgegebenes Gedankengebäude, als vielmehr die Bereitstellung von Antwortversuchen (wie sie Religionen auch anbieten) in denen Wege und Kriterien sichtbar werden, wie ein eigener Glaube gefunden werden kann. Ob die Schüler*innen ihre Antworten mit Referenz auf eine bestimmte institutionelle Religionsgemeinschaft finden, oder einen wie auch immer gearteten individuellen Lebensglauben ausbilden, ist dabei offen zu halten.
Und Religion – bedarf auch sie der Bildung?
Da Religionen in ihren Praktiken – wie ein Blick in die Geschichte und Gegenwart zeigt - nicht frei von menschenfeindlichen Entwicklungen sind, ist Religion aus Bildungsprozessen nicht draußen zuhalten, sondern als Reflexionsobjekt in den Blick zu nehmen und auf Humanität und Gerechtigkeit hin kritisch zu befragen.
Der Umgang mit dem Unverfügbaren verweist auf eine wichtige Kompetenz, die mit religiöser Bildung verbunden ist, nämlich das Ausbilden von Unsicherheitstoleranz. Religiösen Überzeugungen ist eigen, dass sie von der Frage, dass es ev. auch anders sein könnte, begleitet werden. Das Ausbilden von Unsicherheitstoleranz stellt somit eine wichtige Fähigkeit dar, mit dem Nicht-einschätzbaren, mit dem Ungeplanten, dem Irritierenden so umgehen zu lernen, dass es nicht lähmt, sondern für andere, neue Perspektiven zugänglich macht und so vor fundamentalistischen Verengungen bewahrt. Damit kann ein wesentlicher Beitrag für das Ziel religiöser Bildung im Sinne einer religiösen (Selbst)Aufklärung geleistet werden – und in diesem Sinne auch ein Beitrag für die Verwirklichung demokratischen Zusammenlebens.
Univ.-Prof. Mag. Dr. Zekirija Sejdini
Können Religionen etwas zu Demokratie beitragen, wenn sie selbst nicht demokratisch verfasst sind?
Der britische Oberrabbiner Jonathan Sacks (1948–2020) beschreibt Religion als ambivalent: „Religion hat Macht. Sie verbindet Menschen als Gruppe. Sie bewegt Menschen zum Handeln. Sie verändert Leben. Und alles, was Macht hat, kann genutzt, missbraucht oder misshandelt werden. Religion ist wie Feuer. Sie wärmt, aber sie brennt auch. Und wir sind die Hüter der Flamme.“ Diese Aussage verdeutlicht, dass Religion sowohl integrative als auch destruktive Kräfte entfalten kann. Antidemokratische Strukturen in Glaubensgemeinschaften sind häufig historisch bedingt, weniger inhärent.
Im Islam zeigt sich, dass Religion in unterschiedlichen Epochen zur Förderung von Vielfalt oder zur Rechtfertigung restriktiver Maßnahmen herangezogen wurde – jeweils mit Berufung auf religiöse Prinzipien. Religionen können daher zur Demokratie beitragen, indem sie Werte wie Respekt und Anerkennung Andersdenkender fördern, die essenziell für demokratische Gesinnungen sind. Vielfalt als Teil der Schöpfung und Ausdruck des göttlichen Willens zu verstehen, kann dazu beitragen, demokratische Werte zu stärken.
Braucht Demokratie Religion?
Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten. Aus einer Werteperspektive kann Religion dazu beitragen, zentrale demokratische Werte wie Respekt, Gerechtigkeit und Solidarität zu kultivieren, die Demokratie allein nicht hervorbringen kann. Jedoch ist Religion nicht die einzige Quelle solcher Werte. Ihre existenzielle Bedeutung für viele Menschen und ihr Potenzial, Werte zu vermitteln, machen sie zu einer wichtigen Partnerin in der Demokratiebildung.
Warum kann Religion nicht aus Bildungsprozessen ausgespart werden?
Vor einigen Jahren, noch bevor ich an die Universität gekommen war, wurde ich bei einer Podiumsdiskussion mit der Frage konfrontiert, was es bedeuten würde, wenn es morgen keine Religion mehr gäbe. Meine spontane Antwort war damals, dass wir die Tragweite einer solchen Veränderung kaum ermessen könnten, da Religion tief in unserer Kultur, Geschichte und persönlichen Orientierung verankert sei – oft in einer Weise, die uns im Alltag kaum bewusst sei. Diese Überlegung führt zu der Einsicht, dass Religion aus Bildungsprozessen nicht ausgeklammert werden kann, da sie eine elementare Rolle bei der kulturellen Prägung spielt und zur Sinnstiftung beiträgt.
Ein Bildungsprozess, der Religion als integralen Bestandteil begreift, fördert das Verständnis für andere und die Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit weltanschaulichen Fragen. Gerade angesichts der zunehmenden Vielfalt von Glaubensrichtungen und Überzeugungen ist es wichtig, dass Bildungsprozesse das Verständnis für unterschiedliche religiöse Perspektiven fördern, um soziale Spannungen und Missverständnisse zu vermeiden. Eine Ausklammerung von Religion könnte hingegen die Gefahr erhöhen, dass religiöse Konzepte missverstanden oder missbraucht werden, weil fundiertes Wissen und kritisches Urteilsvermögen fehlen.
Letztlich stellt Religion eine Perspektive auf existentielle Fragen und ethische Herausforderungen dar, die auch in einem säkularen Bildungskontext nicht ausgeklammert werden sollte. Eine Bildung, die sich dem Verständnis der kulturellen und historischen Prägekraft von Religion widmet, trägt zur ganzheitlichen Entwicklung des Menschen bei und unterstützt den demokratischen Dialog in einer pluralen Gesellschaft.
Welche Aufgabe kommt hier dem Religionsunterricht zu?
Religionsunterricht an öffentlichen Schulen schafft eine Schnittstelle zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. Er anerkennt das Potenzial von Religionen, zur Bildung beizutragen, und verpflichtet sie zugleich, sich an allgemeinen Bildungszielen zu orientieren.
In pluralistischen Gesellschaften hilft der RU, religiöse Mündigkeit zu fördern. Schüler*innen lernen, den eigenen Glauben kritisch zu reflektieren und unterschiedliche Perspektiven zu respektieren. Dies bereitet sie auf einen bewussten Umgang mit Glaubens- und Weltanschauungsvielfalt vor.
Und Religion – bedarf auch sie der Bildung?
Mittlerweile haben sich die Begriffe Bildung und Religion so stark gewandelt, dass sie oftmals als Gegensätze betrachtet werden. Blickt man jedoch auf die Ursprünge und Grundintentionen der Religionen zurück, so kann man sagen, dass Religionen selbst in der Regel Bildungsprozesse darstellen. Sie zielen darauf ab, Menschen zu befähigen, die Welt zu verstehen und ein erfülltes Leben zu führen. Damit diese bildende Kraft der Religion erhalten bleibt und nicht missbraucht wird, bedarf es jedoch einer ständigen Weiterentwicklung und Anpassung an aktuelle Bedürfnisse und Kontexte.
Heute besteht die Herausforderung vor allem darin, angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Vielfalt eine Kontingenzsensibilität zu entwickeln, d.h. ein Verständnis dafür, dass vieles auch anders sein könnte, als es gegenwärtig ist. Dies gilt für die eigene Glaubenslehre ebenso wie für andere Lebensbereiche. Eine solche Perspektive verdeutlicht die Begrenztheit und Fragmentarität menschlichen Wissens und hilft, Unsicherheit als Bereicherung zu verstehen. Sie fördert die Offenheit für Neues und das Bewusstsein, dass die Wahrheit eine ewige Sehnsucht bleibt, die von einer einzelnen Religion oder einem einzelnen Menschen niemals vollständig erfasst werden kann.